Im zweiten Kapitel meines Fachbuchs Philosophie des Herzens geht es um das Herz aus phänomenologischer Sicht. »Das Herz im Kulturvergleich«, eine Anfang der 90er Jahre von der Gesellschaft für Neue Phänomenologie initiierte interdisziplinäre und interkulturelle Studie zur Bedeutung der Herzmetaphorik, expliziert das spezifische Verhältnis von »Herz und Leib«.
Eine Erweiterung des Wahrnehmungsbegriffs ist unerlässlich, will man sich der Herzmetaphorik anderer Kulturen und anderen kulturspezifischen Menschenbildern überhaupt nähern und Verständnis dafür entwickeln.
Die von dem Kieler Philosophen Hermann Schmitz formulierte Methode der Neuen Phänomenologie und seine Leibperspektive — zur Rettung der Subjektivität und zur Rehabilitierung der verdrängten Leiblichkeit — bilden die Grundlage für die Forschungsarbeit. Der Phänomenologe weitet den Wahrnehmungsbegriff, in dem er in seiner Leibphilosophie ganz neue, in unseren Breitengraden verdrängte und unterjochte Erkenntniskriterien voraussetzt: intuitive Intelligenz, Feinfühligkeit, Selbstwahrnehmung, leibliche Befindlichkeit, eigenleibliches Spüren der leiblichen Regungen. Er unterscheidet zwischen Körper, Körpermodell und Leib. Dem Körper-Schema liegen die anatomisch in einzelne Teile gegliederten Körperorgane zugrunde, die bei Verletzungen oder operativen Eingriffen für das Auge sichtbar werden. Das Körpermodell hingegen dient dazu, anhand von Messgeräten die physikalischen und biochemischen Strukturen der anatomischen Substrate zu beschreiben. Der Leib wird eigenleiblich ohne die Zuhilfenahme des eigenen oder anderen Seh- und Tastsinns gespürt.
Das Herz ist die leibliche Gegend, an der sich Betroffenheit sowie Ergriffenheit des Menschen kundtun.
Neben der häufig gebrauchten Begriffsbestimmung des Herzens als Kern, Mark, Innerstes, lassen sich kulturübergreifend Wahrnehmungen und Vorstellungen ausmachen, die um das Herz als Mitte des Menschen und Zentrum seines Erlebens kreisen. Mal taucht das Herz als Mitte des Geschehens, mal als Zentrum der Gefühle und Gedanken, mal als Mittelpunkt des Leibes auf.
»Brustmitte« bezeichnet die Leibesinsel Herz (Synonyme: Herzgegend, Brustraum), in dem die rationalen und emotionalen Impulse als leiblich gespürte Regungen lokalisiert werden. Vor allem bei den alten Kulturen und auch den vorplatonischen Griechen, die keine kategorische Trennung von Denken und Fühlen, Erkennen und Wahrnehmen vorgenommen haben, gilt die Brustmitte als Zentrum ganzheitlichen Erlebens.
Die Auffassung vom Herzen als »Mitte«, »Zentrum«, »Mittelpunkt«, »Zentralorgan« in diesem Sinne wird z. B. in Japan, Indonesien, China und Indien vertreten. Eine weitere Entsprechung zur Brustmitte als leibliches Zentrum liefert das Herz-Chakra des vedischen Chakra-Systems. Die interkulturelle Studie belegt, dass »Enge« und »Weite« am intensivsten in der Mitte des Leibes (Kopf-Herz-Bauch-Gefüge), dem Brustraum erlebt werden, das erste wird etwa bei Angst, Trauer, das zweite bei Liebe, Freude gespürt. »Engung« und »Weitung« beschreiben nach Schmitz die Grundstruktur der Leiblichkeit.
Während in der abendländischen Konzeption zwischenzeitlich der Kopf als der Sitz des Verstandes und das Herz als der Sitz der Gefühle sich im Rang- und Widerstreit befinden, begegnet man in außereuropäischen und insbesondere alten Kulturen hauptsächlich einer Lokalisierung der Qualitäten des Denkens und Fühlens in die Leibesinsel Herz und manchmal Herz/Bauch, welche in der Wahrnehmung und Deutung oft ineinanderfließen. Die diffus erscheinenden und mancherorts mit den gleichen Begrifflichkeiten bezeichneten unterschiedlichen Leibesinseln belegen die Dynamik der Leiblichkeit und die innerleibliche Korrespondenz entgegen dem ideologisch geformten und selbstverständlich gewordenen starren Körper-Schema.
Die Besinnung auf das Herz wirkt sich positiv auf die Selbstwahrnehmung aus, weitet das Potential der Selbsterkenntnis und sensibilisiert für psychosomatische Zusammenhänge.
Hinführung zur Philosophie des Herzens – Vorstellung der ersten drei Kapitel:
Das Herz aus naturwissenschaftlicher Sicht
Das Herz aus phänomenologischer Sicht
Das Herz aus religionsphilosophischer Sicht