»So mancher meint ein gutes Herz zu haben und hat nur schwache Nerven.«
Marie von Ebner-Eschenbach
Zur Zeiten meines Studiums der Erziehungswissenschaften, hatte ich das sogenannte Dramadreieck von Stephen Karpman kennengelernt. Es ist aufschlussreich, das missverstandene Herz vor dem Hintergrund des Dramadreiecks zu beleuchten.
Das Dreieckssystem Opfer–Täter–Retter ist ein psychosoziales Modell, mit dem sich das allgemeine vorherrschende Beziehungsmuster des Menschen ausgezeichnet offenlegen lässt. Opfer, Täter, Retter stehen in einer Wechselbeziehung zueinander und bedingen einander, um existieren zu können. Die drei Rollen werden von mindestens zwei Personen/Parteien eingenommen, jedoch sind sie nicht fest. Je nach Konstellation und Situation werden die Rollen untereinander ausgetauscht, so dass beispielsweise der Retter sich plötzlich als Täter, der Täter als Opfer oder das Opfer als Retter positioniert.
Als ich die Ausführungen zu diesen drei Strukturen las, sah ich zum ersten Mal einen Zusammenhang, der mir bis dahin absolut verschlossen war: Ich wußte plötzlich, dass diese Dreispaltung des kranken Egos aus dem einen und demselben Problem resultiert und aus der selben Quelle stammt. Schließlich habe ich angefangen, über Jahre hinweg und wie von selbst, bei mir selbst und bei allen Menschen, die Strukturen des Egos als Opfer, Täter und Retter zu beobachten und zu studieren, um das »Spiel« zu verstehen. Klar ist eins: Den Täter da draußen, den kennen alle, um den Schuldigen weiß jeder bescheid, der ist immer verantwortlich für die Misere. Der Retter verteufelt den Täter ebenso, er ist getrieben von der Sucht nach Heroismus, leidet am Helfer-Syndrom und braucht das leidende Opfer. Der Retter ist der Diener des Opfers. Und den Täter gibt es ohne das Opfer nicht.
Mich interessiert heute das Unschuldige. Das Opfer-Ego ist immer unschuldig in diesem Spiel. Welche Verantwortung trägt aber der Unschuldige? Was ist die Verantwortung der Unschuld?
Es gab zahllose Momente und Begegnungen des Lebens, in denen ich meine stille Studie ausgiebig betreiben konnte, in denen ich begreifen konnte, warum Beziehung nicht gelingt. Dabei litt ich oft an der scheinbaren Unschuld, an der Weichherzigkeit des Menschen, an meiner eigenen und an der meiner Mitmenschen. Das Opfer-Ego ist stets getrieben von der Sucht nach Bestätigung, Bewunderung oder Mitgefühl, um seine wackelige Harmonie aufrecht zu erhalten. Es ernährt sich hauptsächlich von Verehrung, sehr gerne von »Oh, Du bist so lieb und nett« oder »Er kann keiner Fliege etwas zu Leide tun« und/oder Verführung »Oh, Du Arme«. Das Opfer-Ego kann sich keiner Konfrontation stellen, sieht jede Härte und Strenge als kaltherzig oder herzlos und bleibt dort verfangen. Hier werden Gefühlsduseleien und Sentimentalitäten mit Liebe verwechselt.
Das Opfer-Ego denkt und glaubt, dass es ein gutes Herz hat und es legitimiert die Auswirkungen seiner schwachen Nerven und trüben Sicht mit Herzlosigkeit oder Kaltherzig des Anderen. Das ist seine Art, sich vor der Eigenverantwortung zu drücken. Das Netter-Typ-/Nette-Mädchen-Syndrom, das in einer engen Wechselbeziehung mit dem Aggressionstabu steht, beschreibt eine Facette der Opferhaltung und das Scheinheilige sehr zutreffend. In seinem Buch Aggression – Warum sie für uns und unsere Kinder notwendig ist erklärt Jesper Juul, warum das Aggressionstabu neben dem Sexualtabu zu den gefährlichsten Tabus unserer Zeit gehört. Beim Täter-Programm hingegen ist das Böse ganz offensichtlich. Wo aber ist beim Täter das Gute? Wo ist das Schlechte beim Retter-Ego?
Opfer, Täter, Retter Persönlichkeiten sind stets verfangen, verstrickt, gespalten. Sie erhalten ihre Existenzberechtigung nur aufgrund verstrickter und ausbeuterischer Machtverhältnisse innerhalb ihrer Konstellation, während alle Drei sich ständig das Rechte oder das Unrechte sowie das Glück oder das Unglück vorgaukeln, in dem sie das Andere in sich selbst unterdrücken. Willkommen in der vollkommenen Abhängigkeit, in einer Welt ohne Freiheit und ohne Verantwortung.
Sich bekennen ist erkennen. Es ist der Augenblick, in dem sich ein Vorhang auftut, indem Licht ins Dunkle gebracht wird, indem man mit sich selbst ins Reine gelangt. Hinter dem Vorhang befindet sich die Aufgabe: »Selbstverantwortung« oder »Ich selbst bin es!« Das Ziel ist der Weg, ein Weg, den jemand ehrlich und aufrichtig geht. Der Weg ist, die eigenen Gedanken-, Gefühls- und Handlungsstrukturen als Programme offen zu legen und sich von diesen »Fallen«, von diesem verstrickten Abhängigkeitssystem zu befreien, um sich überhaupt geistig entwickeln und lieben zu können. Freiheit und Verantwortung sind Erfahrungsebenen, sind erfahrbares Wissen. Wenn man Verantwortung frei und willig für sein Leben und damit für das Leben übernimmt (was sich durchgehend in jedem Denken, Fühlen, Wollen und Handeln äußert), gibt es kein Opfer, Täter, Retter oder keinen Schuldigen und Unschuldigen mehr.
Das Opfer-Ego löst sich auf, wenn der Mensch sich ehrlich bekennt, wenn er in seiner eigenen Entlarvung zum Wissen gelangt und einfach weiß, dass »Liebe« auch kalt und hart sein kann oder auch muss, wenn es die Situation erfordert. Diese Gewissheit erweitert die Sicht, bringt ein stückweit mehr Sicherheit und Harmonie in das wackelige Dasein des Menschen. Für einen herzsichtigen Menschen ist Verdrängung keine Option, er/sie sieht alles, was ist; das vermeintlich Gute und Schlechte. Nicht in den Bewertungskategorien hängen bleiben, den Blick nicht spalten; neutral und nüchtern beide Seiten gleichzeitig und das Ganze ansehen, damit die Sicht nicht mehr in eine Richtung verzerrt wird und dadurch trüb ist – das ist eine Kunst des Sehens.
»Nur wenn der Kern wieder ganz ist, wenn er wieder wahrhaftig ist, teile und lebe ich aus ganzem Herzen, werde ich frei in Beziehung und weiß, dass die Liebe der Urgrund allen Seins ist.« Aus dem Artikel Das Herz der Dinge. Der Riss im Denken, erschienen im Tattva Viveka Magazin, Ausgabe Nr. 72 / 2017.
Nicht Opfer, nicht Täter, nicht Retter, sondern Schöpfer. Das ist unsere eigentliche Bestimmung!