Aus dem Nachwort der Anthologie herzsichtig?!
›herzsichtig‹ appelliert an eine erweiterte Sichtweise und feinsinnige Denkart. Das philosophische und literarische Projekt herzsichtig?! stellt im Umkreis des Herzens das Denken auf den Kopf und lädt zum Nachsinnen ein: in Erinnerung an den Sinn des Herzens und den Herzsinn*.
Was heißt »Sehen mit dem Herzen«? Was bedeutet »herzsichtig sein« für Dich? Was und wie siehst Du mit Deinem Herzen? — Das Buch herzsichtig?! ist in seiner Gänze als eine Antwort auf die Fragen zu betrachten. Facettenreiche Blickwinkel lassen das Phänomen jedes Mal anders zu Wort kommen. In dem Werk sind offene Fragen genauso enthalten wie mit unverhandelbarer Gewissheit getroffene Aussagen zu Herzensqualitäten, die vor allem die ästhetische und ethische Bedeutung des Herzens auf gelungene Weise ins Licht rücken.
Eine verschärfte Formulierung, die der Grundaussage des Werkes entspricht, lautet: Die Weitung des Denkens geht mit der Öffnung des Herzens einher. Ein verschlossenes Herz kann nicht sehen, da es vom Ganzen abgeschnitten und damit berührungs- und beziehungslos ist. Der Zustand des Herzens lässt Rückschlüsse über die Denkweise zu. Tritt das Denken in eine intakte Beziehung mit dem Fühlen, Spüren, Wahrnehmen, Wollen und Handeln, lösen sich seine Eindimensionalität und die von der Erfahrung geschiedene Isolation auf: Egologik und Logozentrik lassen sich bald durchschauen und als Phänomene verkümmerter Herzenslogik entlarven. Ein offenes Herz kennt auch die wechselseitige Bedingung von Erkenntnis und Liebe — Liebe macht sehend und nicht blind. Wenn es blind macht, ist es nicht Liebe!
›Liebe‹ meint die im Herzen pulsierende intelligente Seinsliebe, die große Liebe, die in der Liebe zur Materie genauso waltet wie in der Liebe zum Geist. Die Liebe zur Ganzheit sorgt für Weite und erweitert die Sichtweise. Im Blickfeld der Betrachtung des Herzens steht die Erkenntnisfähigkeit des Menschen. Für einen herzsichtigen Menschen ist Verdrängung keine Option, er sieht alles, was ist; das Gute und das vermeintlich Schlechte. Ist das Glas halbvoll oder halbleer? — Das Glas ist halbvoll und halbleer zugleich. Auf das verbindende Und kommt es an. Und auf das Ganze.
* Dem Herzsinn wohnt die Sinnesvielfalt inne: zum Beispiel der Sinn für die Mitte (eine zentrisch wirkende Kraft), der Sinn für das Ganze, der Sinn für Fülle, der Sinn für Liebe.
von Ilknur Özen
aus dem Nachwort der Anthologie herzsichtig?! (Mainz 2014)