Ich schaue an mir herunter. Die Hose hat zwar keine Löcher, doch ihre Farbe war schon immer ein Schwarz, das verbraucht wirkt, so als ob man sie zu oft gewaschen hätte; auf der Farbpalette irgendeine Mischung aus Altöl und angelaufenem Silber. Viel erwähnenswerter im Kontext der Lobpreisung hässlicher Dinge sind allerdings meine Schuhe. Meine ehemals weißen Schuhe.
Man mag es nicht glauben, aber es hat mich viel Anstrengung gekostet, sie auf genau dieses Level an Verschmutzung und Benutztheit zu bringen: An den Rändern platzen die Nähte auf, die Sohle ist an der Ferse extrem abgelaufen, der Kleber löst sich und das einzige, was darauf hindeutet, dass diese Schuhe einmal weiß gewesen sein sollen, sind die noch halbwegs rein gebliebenen Innenseiten der Schuhlasche. Diese ehemals sauberen, weißen Sneakers haben den Suff von ganz nahe erleben dürfen.
Das Faszinierende an dem offensichtlich Kaputten, dem Dreckigen oder Hässlichen prägt den Zeitgeist. Es hat sich eine menschliche Abgestumpftheit eingestellt, eine verhängnisvolle Gleichgültigkeit dem Schönen gegenüber. Vor allem jüngere Menschen zieht es in alte schäbige Clubs, in dubiose Kneipen oder, einmal größer gedacht, in Metropolen, die vor allem eines feiern und zelebrieren: den Verfall – auf moralischer und auf materieller Ebene. Güter oder Statussymbole müssen in der »hipster generation« nicht mehr funkeln und neu glänzen, man möchte genau das Gegenteil erreichen.

Man kauft Second-Hand, isst aus Containern oder stylt sich extra trashy, so dass viele Mitmenschen nur die Augen verdrehen. All dies geschieht in einer scheinbaren Bewusstheit.
Wir wollen eine Stimmung ausdrücken. Ob wir rebellisch wirken wollen oder uns einfach aus purer Hilflosigkeit und Überforderung so ausdrücken, das ist egal. Mich interessiert nur die Absicht, nur der Impuls hinter dem trendigen Erblühen gesellschaftlicher Abgründe.
Egal, wohin man schaut, fallen Umstände auf, die rein objektiv betrachtet, nichts mehr mit Ästhetik oder Schönheit zu tun haben. Viel eher wird für jene vollgetaggten Fahrkartenautomaten oder die bis zum Erbrechen vollgehängten Straßenlaternen das Wort »Schönheit« neu definiert. Es geht um die Ästhetik des Hässlichen, was, wenn man nur die richtigen Leute fragt, auch eine gewisse Schönheit zu haben scheint.
Die Metropolen, die Knotenpunkte der Welt, drücken die paradoxe Stimmung treffend aus. Berlin beispielsweise besteht zwar nicht ausschließlich aus den siffigen In-Vierteln wie Kreuzberg oder Friedrichshain, dennoch zieht es zahlreiche Menschen gerade deshalb in die Hauptstadt. Es ist absurd, dass viele Siff Junkies einen gewissen Lebensstandard und finanziellen Rückhalt mitbringen und sich so ein Leben im Müll leisten. Ein weiteres bezeichnendes Beispiel ist das Florieren des Frankfurter Bahnhofsviertels. Zwischen Heroinnadeln und Obdachlosen entstehen nicht nur In-Bars und Szene-Läden, sondern auch hochpreisige Wohnanlagen. Verrückt!
Mit dem Style beziehungsweise dem »Anti-Style« der jungen Generation verhält es sich ähnlich. Unmögliche Farb- und Materialkombinationen, Frisuren die nicht zwangsläufig die Vorteile eines jeden Gesichtes unterstreichen, und bedenkenswerte Trends wie Achselhaare in Neonfarben färben oder Tattoos mit Tinte und Nadel per Hand stechen, so dass diese ungefähr dem Ansehnlichkeitslevel einer im absoluten Vollrausch gekritzelten Skizze entsprechen. Aber all das ist absolut gewollt.

Der gewisse Trend ist auch im Umkreis der Musik zu beobachten. Zugeknallt um 4 Uhr nachts eine Lyrics ins Handy lallen, diese vertonen und mit einem Techno-Beat untermalen – das ist die neue Art, Musik zu machen. Es geht hier nicht um musikalisch komponierte Höchstleistungen oder um inhaltliche Tiefen. Es geht nur darum, zu zelebrieren, wie abgefuckt und kaputt man selbst und die eigene Fangemeinde ist.
Die Frage ist: Warum ist das so? Es wäre falsch zu behaupten, dass besagte Entwicklungen und Trends ausschließlich ein Phänomen des 21. Jahrhunderts sind. In den 90ern war beispielsweise der sogenannte »Heroin-Chic« ein kommerzielles Ideal. Dennoch liegt heute alles in Extremen vor: Alles muss noch verruchter, noch verfilzter, noch löchriger, noch kranker und noch kaputter sein. »Unsere Welt« existierte tatsächlich auch in den 90ern und auch zu Ozzy Osbournes Zeiten. Heute allerdings scheint der miserable Zustand eine Hochkonjunktur zu feiern. Will man genauer hinschauen, gibt es nur noch eine Richtung: abwärts.
Der Mensch ist den ökologischen und humanitären Herausforderungen nicht mehr gewachsen. Die Abwärtsspirale ist so weit fortgeschritten, dass es eigentlich kein Zurück mehr gibt. Instinktiv wissen wir – die jüngere Generation – das. Unsere Erde ist vermüllt, physisch und mental. Und wir versuchen das Beste daraus zu machen? In einer Welt, ohne oder zumindest mit nur noch schwindend geringer Menschlichkeit, Reinheit und Schönheit, bleibt uns nichts anderes mehr übrig als eben diesen Verfall zu zelebrieren und provokant zur Schau zu stellen? Sollten wir nicht, jenseits der Ironie, genau das Gegenteil tun, um das zu retten, was uns noch an Leben und wahrer Schönheit geblieben ist?
Ich schaue an mir herunter. Ich weiß, dass kein Mensch diese Schuhe je anfassen oder sich näher mit den höchstwahrscheinlich sehr infektiösen Bakterienkolonien im Sohlenbereich auseinandersetzen möchte. Es ist geradezu eine Beleidigung, mit ihnen an den Füßen einen Raum zu betreten, der irgenwann einmal von jemandem geputzt wurde. Dennoch tue ich es. Ich sehe es auch nicht ein, sie zu waschen oder ihnen den wohlverdienten Gnadenschuss zu geben und sie einfach wegzuschmeißen. Ich möchte mich noch weiter ihres unansehnlichen Anblickes erfreuen.

Warum ich das tue? Könnte ich diese Frage beantworten, würde ich sie wahrscheinlich sofort wegwerfen und eine Grundsanierung in meinem Leben vornehmen. Aber ich bin nicht soweit. Ich weiß nur so viel: Mir fehlt die Kraft, mich über all den Schmutz und die Abartigkeit um mich herum hinwegzusetzen. Eine Mischung aus Unerfahrenheit und Naivität haben mich an diesen Punkt gebracht, und es bedarf einer enormen Stärke, mich wieder aus meiner Anti-Haltung herauszuarbeiten.
#WasFürKeinLeben


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